Ein differenzierter Blick auf das Thema Periimplantitis
19. Mai 2017
Besuchen Sie auch den Vortrag von Dr. Sven Mühleman „Periimplantitis – vermeiden, erkennen, behandeln“ bei unserem Gipfeltreffen in Weggis – Fr, 23.6.2017, 15:00-16:00 Uhr
Programm Weggis
“Wir sehen Knochenremodellierung und Knochenverlust aus verschiedenen Gründen”, sagt ein Pionier der Osseointegration.
Einer der am häufigsten zitierten Wissenschaftler der dentalen Implantologie, Professor Tomas Albrektsson, befürchtet, dass Periimplantitis zunehmend als Warnzeichen für den normalen marginalen Knochenverlust um Implantate herum verwendet wird. Anlässlich seines Besuchs in Zürich, Schweiz, wurde er von Prof. Dr. Stefan Holst, Vice President Implant Systems & Research von Nobel Biocare, zu diesem Thema befragt.
Von Prof. Dr. Stefan Holst
Gemäß einiger weitverbreiteter, jedoch nicht ganz ausgereifter Definitionen kann Periimplantitis als periimplantärer Knochenverlust von 1,0 mm innerhalb des ersten Jahres nach der ersten Behandlung charakterisiert werden. Da ein gewisser postoperativer Knochenverlust während der anfänglichen Knochenremodellierung selbst in den langfristig erfolgreichsten Fällen unvermeidbar ist, führen solche Definitionen naturgemäß zu Kontroversen.
Prof. Dr. Stefan Holst: Periimplantitis ist derzeit ein vorherrschendes Diskussionsthema auf diversen Veranstaltungen und Kongressen. Ist diese Art der Diskussion für die implantologisch tätige Gemeinschaft von Vorteil oder könnte sie unseren Ruf beschädigen?
Prof. Albrektsson: Wenn es sich um unrichtige biologische Schlussfolgerungen handelt, ist dies immer problematisch. Wenn wir die klinischen Ergebnisse von Langzeitstudien betrachten, sind diese sehr viel besser als die, von denen wir immer hören oder lesen. Ich stehe dem sehr kritisch gegenüber. Hier wird versucht, Probleme in Dingen zu sehen, die gar nicht so problematisch sind.
Die Häufigkeit von Periimplantitis wird in der Literatur stark übertrieben dargestellt. Jeder Knochenverlust, der sich im ersten Jahr zeigt, ist definitiv nicht Periimplantitis.
Wir sehen Knochenremodellierung und Knochenverlust aus verschiedenen Gründen. Dieser Knochenverlust ist in soweit harmlos, als dass er für das Implantat keine Gefahr bedeutet.
Dann gibt es die Krankheit Periimplantitis, bei der es sich, wenn kontrollierte Implantate von fachgerecht geschulten Personen gesetzt werden, um eine seltene, aber durchaus in einigem Umfang auftretende Krankheit handelt. Bei 1-2 % moderner kontrollierter Implantate, die nach 10 Jahren oder mehr Nachuntersuchungszeit deutliche Zeichen einer Erkrankung aufweisen, ist das nicht zu ignorieren. Aber eine Übertreibung der Zahlen hilft auch nicht weiter. Es gibt 13 verschiedene Definitionen für Periimplantitis. Auf die meisten können wir verzichten.
Holst: Wie stellt ein Behandler fest, ob Knochenverlust eine natürliche physiologische Reaktion oder durch eine Krankheit hervorgerufen wurde?
Albrektsson: Aus Sicht des Behandlers sollte jede Art des marginalen Knochenverlusts ernst genommen werden – selbst wenn die große Mehrheit an Implantaten, die etwas Knochenverlust aufweisen, nie Periimplantitis entwickeln werden. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, welche es sind.
Beispielsweise sind Zementrückstände im Weichgewebe ein Grund für Probleme mit Knochenverlust. Wenn diese früh genug entfernt werden, wird der Knochenverlust gestoppt. Das Implantat kann danach völlig problemlos langfristig funktionieren. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass, wenn Zementrückstände 10, 15 oder 20 Jahre im Gewebe verbleiben, sich eine Periimplantitis an demselben Implantat entwickeln kann.
Ein Behandler sollte immer handeln, wenn marginaler Knochenverlust sichtbar ist bzw. erste Anzeichen in Form von Mukositis auftreten. Mukositis ist der erste Hinweis auf eine immunologische Reaktion; es hat mit nichts anderem etwas zu tun, als mit Immunologie, was leider von vielen unserer klinischen Kollegen nicht verstanden wird.
Holst: Neue Studien basierend auf einer schwedischen Population deuten an, dass die Implantatmarke eine Rolle in Bezug auf Periimplantitis spielt. Ist das nicht irreführend, wenn man bedenkt, wie viele Faktoren sich auf das Behandlungsergebnis auswirken?
Albrektsson: Viele der zitierten Zahlen, ob aus der kürzlich erschienenen schwedischen Veröffentlichung oder aus anderen Publikationen, sind extrem unrealistisch. Sie verwenden die großzügigsten Definitionen, die sie finden können, für das, was sie als Krankheit bezeichnen, obwohl dies in Wirklichkeit gar keine ist.
Unsere eigenen Studien mit Implantaten mit Langzeitnachuntersuchungen zeigen sehr deutlich einen ähnlich kleinen Prozentsatz von Implantaten, zwischen 1 % und 2 %, die von Periimplantitis betroffen sind. Ob es sich dabei um eines der gängigen Implantatsysteme handelt oder nicht, macht keinen Unterschied.
Aber Implantatsysteme, von denen gesagt wird, sie seien mit anderen dokumentierten Implantaten vergleichbar und bräuchten daher keine eigene Dokumentation, sind nicht vertrauenswürdig. Behandler müssen ein Implantatsystem wählen, dessen eigene Dokumentation in einem peer-reviewed Journal veröffentlicht ist. Wenn diese Publikationen nicht vorliegen, kaufen Sie es nicht. Vergessen Sie nie, dass der Kauf eines billigen, nicht dokumentierten Implantats sehr teuer werden kann.
Holst: Basierend auf Ihrer klinischen Erfahrung, welche Faktoren spielen eine Rolle?
Albrektsson: Es sind Behandlungskomplikationen, die Knochenverlust hervorrufen. Wir nennen es die „Triad of poor“. Erstens, schlechte Implantatsysteme. Wie gesagt, diese existieren und werden billig verkauft. Diese Implantatsysteme sollten Sie vermeiden. Zweitens, schlechte klinische Handhabung durch Behandler ohne die erforderlichen Fähigkeiten. Schließlich gibt es dann noch das, was man als schlechte Patienten bezeichnen könnte – Patienten, die sich nur schwer behandeln lassen.
Dies sind die Gründe für Knochenverlust, der in seltenen aber manchen Fällen auf lange Sicht zu Periimplantitis führen kann, es in den meisten Fällen aber nicht tut.
Holst: Was können wir als Fachkräfte der dentalen Implantologie also unternehmen, um die Verbreitung von Fehlinformationen über Periimplantitis zu vermeiden?
Albrektsson: Ich bin sehr irritiert, wenn harmloser Knochenverlust als Krankheit bezeichnet wird. Diejenigen, die das tun, müssen die neu veröffentlichten Forschungsergebnisse lesen und werden feststellen, dass sie im Unrecht sind.
Und der Berufsstand muss mit einheitlicher Stimme gegen warnende Berichte viel stärker als bisher protestieren. Gleichzeitig müssen wir natürlich weiterhin die Patienten sehr ernst nehmen. Wir können Knochenverlust nicht ignorieren, selbst wenn er sich als harmlos herausstellt. Wir müssen stets aktiv sein und nach bestem Wissen und Gewissen für unsere Patienten arbeiten.